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Diese Privatschulen setzen auf Zukunftskompetenzen

Leistungsbewertung –

Diese Privatschulen setzen auf Zukunftskompetenzen

Schulnoten und Zeugnisse spiegeln die Fähigkeiten und Kompetenzen von Schülern nur unzureichend wider. Privatschulen treiben die Suche nach Alternativen voran.

01.11.2024 – 10:53 Uhr

Einzelplätze, Sprech- und Internetverbot, alle Notizen vom Tisch: So sieht eine typische Klassenarbeit in Deutschland aus – heute wie vor 50 Jahren. „Ein museales Setting“, findet Hendrik Haverkamp, Koordinator Digitalität am Evangelisch Stiftischen Gymnasium (ESG) in Gütersloh.

Im modernen Berufsleben gelte es, komplexe Probleme im Team zu lösen, innovativ und kreativ zu sein und digitale Technologien wie Künstliche Intelligenz sicher und effizient zu nutzen, so Haverkamp, der im Hauptberuf Deutsch und Sport unterrichtet. Prüfungsformate, bei denen eine KI schon heute besser abschneidet als die meisten Schüler, gehören ihm zufolge selbst auf den Prüfstand.

Im November 2023 bestand das KI-Programm ChatGPT 4.0 die Abiturprüfung in Bayern mit einer glatten Zwei, auch bei internationalen Zulassungstests für Studienbewerber machen smarte Bots eine gute Figur. Statt ihren Einsatz als Schummelei zu verbieten, müsse die Schule junge Menschen zum konstruktiven Umgang mit ihnen befähigen, sagt Haverkamp.

Die Kultusministerkonferenz der Bundesländer sieht das inzwischen ähnlich: Schulbehörden sollten die Prüfungskultur an die Erfordernisse der digitalen Welt anpassen und Zukunftskompetenzen wie Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken bei der Bewertung von Schülerleistungen künftig stärker berücksichtigen, heißt es in den jüngst publizierten KI-Handlungsempfehlungen.

Deutschlehrer Haverkamp lässt seine Schüler bisweilen Klassenarbeiten mithilfe von ChatGPT schreiben – schon seit 2022. Bedingung: KI-generierte Textpassagen müssen kenntlich gemacht werden, die Lernenden ihre Vorgehensweise erklären.

Wie reflektiert sie mit den KI-Vorschlägen umgehen, ist Bestandteil der Bewertung. „Am Ende haben keineswegs alle eine Eins mit Sternchen, denn mit unterschiedlichen Meinungen und einer Fülle an Informationen umzugehen ist nicht einfach“, sagt Haverkamp. In der modernen Gesellschaft werde dies aber zur Schlüsselqualifikation.

Auf das Umfeld kommt es an

Es sind vor allem Privatschulen, die bei der Suche nach zeitgemäßen Lehr- und Bewertungsmethoden vorangehen, darunter so unterschiedliche Einrichtungen wie das Elite-Internat Louisenlund in Schleswig-Holstein, die Evangelische Schule Berlin Zentrum oder die Leonardo-da-Vinci-Gesamtschule Nauen, die unlängst mit dem Bildungspreis der Arbeitgeberverbände ausgezeichnet wurde. Sie alle machen vor, dass Leistungs- und Berufsorientierung nicht darunter leiden, wenn man Frontalunterricht, Klassenverbände oder unangekündigte, benotete Tests abschafft. Stattdessen setzen die privaten Anbieter auf eigenverantwortliches Lernen im eigenen Tempo, fördern berufsrelevante Kompetenzen und bewerten neben der Leistung auch die persönliche Entwicklung, das Sozialverhalten und den Lernfortschritt.

Dafür braucht es vor allem gute Rahmenbedingungen. So ist das ESG dank einer Kooperation mit der Mohn Stiftung medial bestens ausgestattet und zählt zu den bundesweit rund 130 vom Digitalverband Bitkom als Smart School ausgezeichneten Schulen. Die pädagogischen Entscheidungen trifft ein autonomes Kuratorium, das offen für neue Wege ist. „Wir haben hier eine schöne Kultur des Ausprobierens“, sagt Digitalkoordinator Haverkamp. Weniger Spielraum hat er bei den Zeugnisnoten. Das Notenschema von Eins bis Sechs ist bundesweit vorgegeben. Es soll für Vergleichbarkeit sorgen, etwa wenn Schüler die Schule wechseln oder umziehen. Zudem soll es bei der Vergabe von Studien- und Ausbildungsplätzen eine objektive Auswahl ermöglichen.

Allerdings zweifeln Bildungspraktiker wie -forscher zunehmend daran, dass sechs Zahlen dieser komplexen Aufgabe gerecht werden. Zusätzlich erschwert das föderale Bildungssystem mit 16 Landesschulgesetzen und einem verwirrenden Nebeneinander unterschiedlicher Schulformen objektive Vergleiche. Auch fallen die Abiturnoten von Bundesland zu Bundesland höchst unterschiedlich aus. In Leistungsvergleichen wie PISA oder IGLU wiederum zählen einige der Länder mit überdurchschnittlich guten Abiturnoten eher zu den Schlusslichtern.

Enttäuschte Arbeitgeber

Dass Eins nicht gleich Eins ist, sorgt nicht nur für Verwerfungen bei der Vergabe zugangsbeschränkter Studienplätze, es erschwert auch die Personalauswahl der Unternehmen. Laut einer Umfrage der Beratungsgesellschaft EY entsprechen die Qualifikationen von Schulabgängern immer weniger den Erwartungen ihrer künftigen Arbeitgeber. 38 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, dass die Fähigkeiten der Absolventen sich nicht mit den geforderten Standards decken.

Freie Waldorf- oder Montessori-Schulen setzen schon lange auf individuelles Feedback zu persönlichen Stärken und sozialem Verhalten statt allein auf benotete Leistungskontrollen. Ganz auf Zensuren verzichten dürfen aber auch sie nicht. Denn um einen staatlich anerkannten Abschluss wie Mittlere Reife oder Abitur zu erlangen, müssen auch ihre Schüler am Ende der Schulzeit klassisch benotete Abschlussprüfungen bestehen.

In Brüssel lobbyiert der Europäische Waldorf-Verband schon länger für die Anerkennung seiner eigenen Abschlüsse – bisher ohne Erfolg. Die Vorgabe, Schüler auf standardisierte Tests vorzubereiten und damit die individuellen Lernprozesse zu ignorieren, erschwere freien Schulen die Umsetzung ihrer pädagogischen Konzepte, so das Argument.

Auch Experten außerhalb der Reformpädagogik teilen diese Position: „Wer die Lernkultur verändern will, muss auch die Prüfungskultur verändern“, sagt Björn Nölte von der Evangelischen Schulstiftung in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, einem großen freien Schulträger, der 35 Schulen und 17 Horte betreibt. Anders als der Waldorf-Verband ist er jedoch überzeugt, dass auch im Rahmen der aktuellen Gesetze positive Veränderungen möglich sind.

Anica Petrovic-Wriedt, Schulleiterin an der Leonardo-da-Vinci-Gesamtschule, wünscht sich ein Umdenken schon im Studium. Hochschulen bildeten Lehrer eher zu Einzelkämpfern aus, die allein die perfekte Unterrichtsstunde entwickeln. Sie selbst ermuntert ihre Lehrkräfte, an Best-Practice-Schulen zu hospitieren, um neue Erfahrungen zu machen. Ein weiterer Vorteil von Privatschulen: Um solche Maßnahmen zur Weiterentwicklung bewilligt zu bekommen, muss sie keine bürokratischen Anträge ausfüllen. Sie bespricht sich einfach mit den übrigen Mitgliedern der Geschäftsleitung im Zimmer nebenan.

 

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